Gisela Zies

Prosa


Illustration zum Bachmanntext Paula von Gisela Zies, Berlin

Eine Frau, die schreibt, denkt durch ihre Mütter zurück

KLAGENFURTER TEXTE zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1981, List Verlag

PAULA

Textprobe:

Als Letzte wird Paula in den Himmel geschleudert. «Muss das ausgerechnet mir passieren!», denkt sie, «Ich werde diesem Wirbel die geballte Kraft meines Ichs entgegenstellen und der Tücke des Himmels meinen Kampf ansagen! Ihr werdet noch erleben, was mich im Innersten zusammenhält!» Sie hebt das Kleid – ein dicht gewebtes Baumwollkleid mit dunkelblauen Querstreifen im Wechsel mit hellblauen – über beide Knie und tritt derartig heftig gegen einen vor ihr schwebenden Kondensationskern, dass dieser steil ein Hoch überrollt, eine wassergeblähte Riesenform annimmt, die Grenze seiner Widerstandskraft gegenüber der irdischen Schwere aufgibt und sich in Heftigkeit über Paula ergießt. Das Kleid klebt ihr am Leibe. Sie schaut an sich runter, vergisst alle Soll-Gefühle, stößt einmal kurz an einen vorüber gleitenden Cumulus. Der Hüftschwung machte Spaß, sie stößt ein zweites Mal. Die Luft pfeift anerkennend. Paula möchte sich anhalten, so dauernd bleiben, so formfest unterm Baumwolllappen, so windschnittig und hüftenschwingend. Doch ein Frosthauch schüttelt sie, die dunklen und hellen Streifen legen sich wie eiserne Ringe um ihren Leib. «Macht nichts!» Paula redet sich Mut zu. «Diesem Chaos muss doch beizukommen sein und sei es mit Frost in den Adern!» Sie öffnet die Arme, bietet sich den Unbilden des Himmels dar. Und mit urmütterlicher Geste lädt sie die Elemente ein, sich ihr anzuschließen. Sie glaubt fest daran, dass sich diese ihrem Wunsch nicht entziehen, weil sie - wie sie selbst – nicht nur im Innersten, sondern auch im Äußersten kristallklare Absagen an die Vergänglichkeit bewahren. Das alles ist nicht ohne Rührung anzusehen, das zart Linkische von Paulas Geste verlangt Mitgefühl, ihr Eigensinn hat etwas Heroisches. Immerhin gilt es zu bedenken, dass Paula die Tochter eines in sich gekehrten Dorflehrers ist und sich bei der Heirat mit einem kleinstädtischen Kohlengroßhändlers der Illusion eines Aufstiegs hingegeben hatte, bald aber als kriegszeitliche Stellvertreterin ihres Gatten in die Niederungen rein geschäftlicher Tätigkeit hinab gezwungen worden war und seitdem an Ausfallerscheinungen ihrer Lebendigkeit leidet, sowohl was ihren Körper, als auch ihren Kopf betrifft.

 

Illustration zum Text Anna. Lisa, Karoline, Henriette von Gisela Zies, Berlin

ANNA, LISA, KAROLINE, HENRIETTE

Vier Porträts. In „Zur Physiologie der bildenden Kunst“, Karoline Müller, Berlin 1987

Textprobe:

Eine Frau, die schreibt, denkt durch ihre Mütter zurück. Ich denke: «Heuerlingsche! Heuerlingsche!», riefen die Kinder, deren Väter ihr Land nicht gepachtet, sondern geerbt hatten. Anna, die Heuerlingstochter, machte ein stolzes Gesicht, sah stur geradeaus. Den Sandweg entlang, zwischen den Erdwällen mit dem dichten Gebüsch. Dabei wusste sie genau, wo sich die Schandmäuler versteckten.

 

Illustration zum Text Anna. Lisa, Karoline, Henriette von Gisela Zies, Berlin

Wenn sie traurig war, verließ Lisa heimlich das Haus, bog den Feldweg ein, spazierte zu einem Hügel und sah hinunter zu den zwei Flüssen, wie sie sich vereinten und gemeinsam zum Meer strebten. Manchmal tanzte sie, manchmal blieb sie nur stehen, die Augen geschlossen. Hätte sie den Mund geöffnet, um zu klagen oder etwas zu fragen, es hätte geklungen wie ein Nebelhorn.

 

Illustration zum Text Anna. Lisa, Karoline, Henriette von Gisela Zies, Berlin

Die Bäckersleut’ traten aus der Kirche, spazierten die Kirchstraße hinunter bis dorthin, wo sich Kirch- und Hauptstraße kreuzten. Dort wartete bereits eine Gruppe Kinder darauf, dass des Bäckers Töchterchen Henriette ihre Eltern um Erlaubnis bat, bis zum Mittagessen in der Nähe der Kirche bleiben zu dürfen. Sie durfte. Nur pünktlich zum Essen müsse sie sein, sonst setze es Prügel!

 

Illustration zum Text Anna. Lisa, Karoline, Henriette von Gisela Zies, Berlin

«Karline, kimm mie inn Stall, sast wat Schöönet saihn!», rief die Bäuerin. Was Karline dann sah, waren Fickels. Die Sau hatte gejungt. «Woher kriegt die Sau die Fickels?» «Vom Eber!» «Woher hat meine Mutter mich gekriegt?» «Vom Eber! Denn de is en Adebar un de Adebar is en Storch und de Storch is en Klapperstorch un en Klapperstorch bringt de lüttschen Kinder.» In Wahrheit aber war es so: ein schüchterner Mörtelmischer aus dem Nachbardorf im Tal zwischen zwei Harzbergen hatte Karlines Mutter zum Tanzen abgeholt. Doch dann waren sie vom Weg abgekommen, in einen Tann, wo der Mörtelmischer dann die Geschichte von Eber und Adebar richtig erzählt hat. Und nach ein paar Monaten wusste die junge Frau, von woher das Fickelchen war, das ihr von innen gegen die Bauchdecke stieß.


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